Der unbekannte Nachbar – So nah und doch so fern? Eine Spurensuche zum polnisch-deutschen Verhältnis
Klischees und Vorurteile bestimmen häufig unseren Blick auf unseren Nachbarstaat im Osten: Polen klauen, sind kriminell, das Land rückständig und katholisch-konservativ. Polen sind grundsätzlich ganz anders als wir, haben eine andere Kultur, Geschichte, Identität. Wir Deutschen sind in Polen nicht gern gesehen, eine positive und gewinnbringende Nachbarschaft, ja ein freundschaftliches Verhältnis scheinen – auch aufgrund der Geschichte – kaum möglich.
Was ist dran an solchen und ähnlichen Klischees und Vorurteilen? Sind sie zutreffend oder entstammen sie doch eher einer Unkenntnis, vielleicht sogar einem Desinteresse unserem Nachbarn gegenüber?
Um diese Unkenntnis zu überwinden ging in diesem Schuljahr eine Gruppe aus zehn Schülerinnen und Schülern im Rahmen eines Projektkurses auf eine Suche, eine Spurensuche zu diesem unbekannten und doch so reichen, zum Teil aber auch schwierigen deutsch-polnischen Verhältnis. Die Spurensuche führte uns zunächst in die nähere und auch fernere Geschichte. Begegnungen im Polnischen Institut, Zeitzeugengespräche im Gerhart-Hauptmann-Haus und eigene Recherchen zeigten dabei immer wieder, dass die gemeinsame deutsch-polnische Geschichte oftmals eine leidvolle war. Die Teilungen Polens zwischen den europäischen Großmächten, das Fehlen eines Nationalstaats über mehr als hundert Jahre, zwei Weltkriege und die Beschränkung nationaler Souveränität durch die Sowjetunion in der Nachkriegszeit, vor allem aber die Besatzung Polens durch das nationalsozialistische Deutschland sind prägende Elemente besonders der polnischen Identität, die bis heute Auswirkungen auf das Verhältnis und die Beziehung der beiden Nachbarn haben. Diese historischen Belastungen zeigten sich dann auch wieder nach dem Regierungswechsel in Warschau, der den medialen deutsch-polnischen Diskurs aufs Neue anregte, wobei Sensibilitäten, ja Tabus im Nachbarschaftsverhältnis aufgedeckt und berührt wurden, die wir dann gemeinsam im Projektkurs analysierten, hinterfragten und entschlüsselten. Dabei wurde für uns deutlich, dass ein solcher Diskurs vernünftig nur auf Grundlage eines differenzierten historischen Bewusstseins und der Kenntnis des jeweils anderen geführt werden kann.
Die historische Spurensuche führte uns jedoch nicht nur zu den Schattenseiten der deutsch-polnischen Geschichte. Gerade auch die Begegnungen im Gerhart-Hauptmann Haus zeigten die positiven Seiten deutsch-polnischer Nachbarschaft. „Lernt Polnisch!“ lautete etwa das Motto einiger DDR-Oppositioneller in den 80er Jahren. Waren Polen und vor allem die Solidarnosc-Bewegung doch ein Vorbild mit Strahlkraft für den Freiheitskampf gegen die sozialistischen Diktaturen Ost- und Mitteleuropas. Besonders beeindruckend war das Gespräch mit Monika von Wysocki, die als Zeitzeugin mit deutsch-polnischen Wurzeln auch trotz der vielen negativen Erfahrungen von Krieg, NS-Terror, Flucht und Heimatverlust immer wieder die positiven Seiten und den Reichtum des Lebens betonte und so mit ihrem Handeln und ihrer Biographie ein Positivbeispiel deutsch-polnischer Verständigung war.
Ähnlich facettenreich wie die deutsch-polnische Geschichte waren auch die Themen, denen sich die Schülerinnen und Schüler des Projektkurses in ihren Abschlussarbeiten widmeten. Die territorialen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in ihren Folgen auf vielfältige Weise behandelt. So befassten sich die Schülerinnen und Schüler mit der wechselhaften Geschichte und Identität der Stadt Breslau, dem Thema Flucht- und Vertreibung und der z. T. schwierigen Rolle der Vertriebenenverbände, mit dem besonderen Status der Schlesier in Polen oder mit Sigfried Lenz‘ großem Roman „Heimatmuseum“ und dem in diesem konstruierten Heimatbegriff. Die äußeren zeitlichen Pole wurden durch zwei Arbeiten abgesteckt: einer Arbeit zur Bedeutung des polnischen Künstlers Ludwig von Milewski, der als Student an der hiesigen Kunstakademie eine bedeutende Rolle während der Revolution 1848/49 in Düsseldorf spielte und im Jahr 1849 auf den Barrikaden in der Düsseldorfer Altstadt verstarb, und einer Analyse des deutsch-polnischen Verhältnisses sowie der Beziehung Polens zur EU während der letzten drei polnischen Regierungen. Ein Dokument der Versöhnung, nämlich der Hirtenbrief der polnischen Bischöfe aus dem Jahr 1965, war Gegenstand einer weiteren Arbeit, womit der Fokus nochmals nicht auf dem Trennenden, sondern dem Verbindenden der beiden europäischen Nachbarn lag.
Dieses Verbindende, die Gemeinsamkeiten, aber auch ein Bewusstsein für Unterschiede und Besonderheiten der Menschen beider Staaten waren somit die Essenz unserer Arbeit. Die intensive Beschäftigung mit der jeweiligen und gemeinsamen Geschichte, mit Mentalitäten und Identitäten ließen uns so dem unbekannten Nachbarn ein Stück näher kommen und diesen über alle Klischees und Vorurteile hinweg als einen Nachbarn erfahren, den es kennenzulernen lohnt.
Dr. Tobias Lüpges für den Projektkurs „Europa“ (De/Ge)